Das Maß
Alles ist anmaßend. Um Realität greifbar zu machen, orientieren wir uns an genormten Messbarkeiten. Ein Ding ist so groß wie ein Meter und etwa ein Viertel eines Meters, also ist es 125 cm groß, also lang, und nicht dicker als ein durchschnittliches Blatt Papier, also 0,104 mm.
Dieses Ding könnte alles Mögliche sein. Da wir den Kontext nicht kennen, nicht den Sprecher und nicht das Material, aus dem das Ding besteht, da wir auch seinen Nutzen nicht kennen, nutzt uns die Vermessung des Dings nicht als Information über das Ding. Wir müssen, um es greifbar zu machen, erst ein System erschaffen, in dem das Ding vermessen werden kann.
Der von Sebastian Körbs vermessene Raum ist nur durch seine Bemaßung erfahrbar. Der Text, den der Künstler uns per Soundaufnahme liefert, gaukelt Exaktheit vor. Sebastian Körbs behauptet, er enthalte uns keine Information über diesen vermessenen Raum vor, vermisst er doch sogar die Relationen von einem Ding (Türgriff) zum anderen (Wand) und schafft ein System aus Bezügen und Abhängigkeiten. Doch kann dieses System aus Informationen im Nichts bestehen? Würde uns dieser Wust an Maßen, ohne das Objekt in situ und in natura, der Raum nämlich, vor dem wir stehen, der uns verschlossen bleibt, überhaupt informieren? „Der Raum des Schaufensters ist 3 Meter, 19 Zentimeter und 8 Millimeter hoch. Die Breite des Raumes beträgt 14 Meter, 34 Zentimeter und 4 Millimeter.“
Welcher Raum? Wo? Wer spricht? Wie sieht der Raum aus, zu welchem Gebäude gehört er, was ist seine Funktion? So betrachtet, wiederholt Sebastian Körbs hier den Umgang mit seinem favorisierten künstlerischen Material: Informationen. Diese Informationen werden vervielfältigt, collagiert, übereinandergestapelt oder zerlegt. Sie verlieren ihren Inhalt, werden zum reinen System, das die ursprüngliche Bedeutung potenziert in sich trägt, aber nicht mehr direkt zeigt.
Bereits 2009 zeigte Sebastian Körbs bei der mhh-Kestnerschau Arbeiten, die sich mit der Auflösung von Informationen beschäftigten. So zeigte er hier eine Auswahl von Druckgraphiken, die sich inhaltlich mit dem NichtInhalt „Null“ beschäftigten, aber auch eine Performance, bei der es um den Zufall und das System ging. Der Intention dieser Performance, bei der einige hundert Würfel im Ausstellungsraum verschüttet wurden, lagen auch andere frühe, großformatige Arbeiten des Künstlers zugrunde, die zwischen Zeichnung und Druckgraphik changieren. Hier bestimmte der Zufallsmoment die Anordnung der Würfel auf einem Papier. Die zum Liegen gekommenen Würfel wurden einzeln „abgedruckt“. Die Wiederholung der Handlungen, z.B. der Handlung des Abdruckens, führte zum Gedanken der Entleerung des Inhaltes durch dessen ständige Wiederholung. Im Wechselspiel entwickelte Sebastian Körbs das Interesse an Wiederholung und Informationen weiter. Die Null als Zeichen, das das „Nichts“ beschreibt, also als Information über die Nicht-Information, rückte ins Zentrum von Körbs künstlerischem Interesse.
Die Arbeiten, die sich mit der Null und deren Wiederholung beschäftigen, bekamen bald, gefördert durch ein Stipendium in Istanbul 2009, Züge des Ornamentalen. Das Ornament wurde, gerade in der islamischen Kunst, häufig benutzt, um bildliche Darstellungen zu vermeiden. Ornamente erzeugen keine Illusionen, sie sind weder narrativ, noch plastisch. Dennoch enthalten sie Information. Die Eigenschaften des Ornamentes sind immer wieder Gegenstand der künstlerischen Untersuchungen Sebastian Körbs. Wenn er z.B. Kirchengrundrisse auf riesigen Drucken in schwarz-weiß übereinander druckt, bis das tiefste Schwarz erreicht ist, die Linien sich doppeln und teilweise verschwinden, so ist einerseits ein abstraktes Ornament entstanden und doch gleichzeitig die Mehrdimensionalität der Fläche erreicht. Das widerspricht dem Ornament dies ist auf die Fläche beschränkt, jedoch nicht der Logik der Auflösung durch Wiederholung, die das Ornament in sich trägt.
Auch die Arbeit „Maße“, die ja keine graphische Arbeit ist, sondern mit dem real existierenden Raum arbeitet, spielt mit der Wiederholung von Informationen. 1944 bezeichnete der Mediziner Hans Martin Sutermeister das Ornament als „Erholungsregression“: Das „Zauberische am Ornament“ beruhe „auf seiner sich durch Wiederholung summierenden affektiven resp. suggestiven Wirkung, die dadurch bedingt ist, daß rhythmische Außenreize vermehrt auf [die] Tiefenschichten unserer Psyche einzuwirken pflegen.“
Das Ornament könne somit, ähnlich wie rhythmische Musik, benutzt werden, um den Betrachter (oder Hörer) zu beeinflussen. Der Sound von „Maße“ behauptet Informationen, er verführt uns, ihn wiederholt anzuhören, sich von ihm beeinflussen zu lassen und dem Gehörten Glauben zu schenken. Wie dieser Text oben versucht hat zu verdeutlichen, erliegt der Hörer dabei der Illusion, relevante, sachliche Informationen zu erhalten und den Raum objektiv und wahr erfahren zu können.
Eine wichtige Ebene, um die Arbeit „Maße“ zu durchdringen, ist eben dieser räumliche Aspekt des Innen und des Außen. Der Betrachter erscheint zunächst ausgeschlossen, er kann sich den Ausstellungsraum selbst nicht empirisch erschließen. Er wird zum Teilnehmenden, der aktiv eine Handlung vollbringen muss, wenn er das künstlerische Angebot wahrnehmen will: Er muss eine Nummer anrufen. Dadurch konzentriert er sich auf das, was nicht zu sehen ist und betritt sinnlich den Raum, erfährt ihn hörend. Während man bei den meisten Ausstellungen gewohnt ist, ein auf Vereinbarungen beruhendes, institutionelles Angebot wahrzunehmen, das bereits fraglos akzeptiert ist, nämlich: Werk + Ausstellungsraum + öffentlich + Öffentlichkeit = Ausstellung, so spielt die Arbeit „Maße“ mit dieser Vereinbarung, behauptet zunächst, nicht öffentlich zugänglich zu sein, behauptet, ein „Innen“ zu sein. Dadurch spiegelt sie auf poetische Weise, wie sehr das Vertrauen auf (real existierende, objektive) Umwelt und (subjektive) Innenwelt uns, gerade als Betrachter von Kunstwerken, täuschen kann. Jeder Betrachter erfährt auch das vermeintlich objektive Außen auf subjektive Weise. Die Tonspur von „Maße“ übermittelt sachliche, vorgeblich essentielle Informationen über den verborgenen Raum („Außen“), die jeder Hörer sinnlich zu seinem subjektiven Raum („Innen“) zusammenfügt. Maße werden stets in einen persönlichen Bezug gesetzt. Somit entleert sich durch den Betrachter der Inhalt der Information, mittels des Entzugs des objektiven Bezugs und verdichtet sich im Rahmen der Ausstellung zu einer künstlerischen Äußerung.
Wie das Innere einer Ohrmuschel ist „Maße“ auf verschiedenen Ebenen gewunden und verwoben. Das sinnliche und das sichtbare Maß treffen in „Maße“ von Sebastian Körbs zusammen und erschaffen einen Raum des Hörens und vor allem der Reflektion.
Text: Yvonne Zindel